Teil 1 Das Pandemieabkommen: Ein Wendepunkt für globale Gesundheitssicherheit und -gerechtigkeit?

24. Juni 2025 I  News ,  Pandemic Preparedness  I von : Ugbedeojo Sule

Nach über drei Jahren intensiver Verhandlungen ist das Abkommen ein Fortschritt. Doch bringt es tatsächlich mehr globale Gesundheitsgerechtigkeit – oder wiederholt es alte Fehler?

Am 20. Mai 2025 wurde Geschichte geschrieben: Die 78. Weltgesundheitsversammlung verabschiedete das lang erwartete Pandemieabkommen – ein multilateraler Rahmen zur Prävention, Vorsorge und Reaktion auf zukünftige Pandemien. Nach über drei Jahren intensiver Verhandlungen und globaler Überlegungen infolge von COVID-19 stellt das Abkommen einen ehrgeizigen Schritt nach vorn dar. Doch bringt es wirklich mehr globale Gerechtigkeit – oder wiederholt es dieselben Versäumnisse?

Für den ersten Teil unserer zweiteiligen Artikelserie haben wir mit Melissa Scharwey von Médecins Sans Frontières (MSF), und Valentina Voican vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gesprochen.

Ihre Perspektiven, geprägt von Politik, Praxis und öffentlicher Gesundheitsarbeit an vorderster Front, bieten einen tieferen Einblick in die Chancen, Lücken und nächsten Schritte dieses Abkommens.

Ein globaler Meilenstein – aber erst der Anfang

„Es war ein Erfolg“, sagt Valentina Voican vom Bundesministerium für Gesundheit, die Teil des deutschen Teams innerhalb der erweiterten EU27- Verhandlungsteams unter Leitung der Europäischen Kommission war. Sie betont, dass der erzielte Konsens besonders bemerkenswert sei – angesichts des vergleichsweise kurzen Zeitrahmens von nur drei Jahren im Vergleich zu anderen internationalen Abkommen. „Aber es ist nicht das Ende dieses Prozesses“, fügt sie hinzu. Die Annahme des Abkommens sei zwar ein entscheidender erster Schritt, doch der Annex zum Zugangs- und Vorteilsausgleichsmechanismus (sog. Pathogen Access and Benefit Sharing System, PABS) muss noch verhandelt werden. PABS ist ein System, das sicherstellen soll, dass Länder, die Krankheitserregerproben teilen, auch einen fairen Zugang zu den entstehenden Medizinprodukten  – wie Impfstoffen, Therapeutika und Diagnostika – erhalten.

Das Abkommen ist ein Kompromiss, der unter Druck ausgehandelt wurde. „Wenn alle ein bisschen unzufrieden sind, dann sind wir auf dem richtigen Weg“, so Valentinas Einschätzung. Deutschland hätte sich insbesondere im Präventionsbereich stärkere Regelungen gewünscht. Dennoch sieht sie die erstmalige Aufnahme des One-Health-Ansatzes in einem völkerrechtlich bindenden Abkommen als großen Erfolg an. Weitere wichtige Elemente sind Artikel zur Gesundheitssystemstärkung, Gesundheitspersonal sowie zur Errichtung eines globalen Versorgungs- und Logistiknetzwerks. Besonders wichtig: Der Prozess habe gezeigt, dass Multilateralismus und Solidarität trotz globaler Spannungen möglich bleiben. Ein Schwachpunkt bleibt jedoch laut Valentina die fehlende Verbindlichkeit bezüglich der Umsetzung des Abkommens: „Es wäre hilfreich gewesen, verbindliche Regelungen zur Umsetzung und Einhaltung der Maßnahmen aufzunehmen“, merkt sie an.

Aus Sicht von MSF zeigt das Abkommen sowohl Fortschritte als auch Grenzen. „Wir können nicht sagen, dass es der größte Meilenstein überhaupt ist, aber es ist auch keine verpasste Chance. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen“, sagt Melissa Scharwey, Humanitarian Advocacy Officer for Global Health and Access to Medical Tools bei Médecins Sans Frontières. Sie war aktiv Teil des MSF-Teams, das sich an der Interessenvertretung im Rahmen des Verhandlungsprozesses beteiligt hat. Ihr Schwerpunkt lag auf dem gerechten Zugang zu Impfstoffen, Medikamenten und Diagnostika sowie auf den Bestimmungen zum Schutz von Gesundheitspersonal und besonders gefährdeten Gruppen – insbesondere in humanitären Kontexten.

MSF begrüßte wichtige Bestimmungen wie die Priorisierung von Gesundheitspersonal, die Sicherstellung des humanitären Zugangs und den Schutz von Teilnehmenden an klinischen Studien, hatte jedoch auf stärkere Verpflichtungen gehofft – insbesondere in Bezug auf Technologietransfer und Bedingungen für öffentliche geförderte Forschung. „Wir haben jetzt eine bessere Grundlage“, so Melissa. „Aber fertig sind wir noch lange nicht.“ Wenn sie einen zusätzlichen Passus einfügen könnte, dann wäre es eine klare Verpflichtung, dass Regierungen „globale Gerechtigkeit über Profitinteressen stellen“ – insbesondere bei öffentlich finanzierter Forschung. „Wir dürfen dieselben Fehler nicht wiederholen. MSF-Teams sehen immer wieder, wie ungerecht der Zugang zu lebensrettenden medizinischen Hilfsmitteln ist. Und wir wissen auch, dass dies eine wirksame Reaktion auf Pandemien behindert“, warnt sie.

One Health: Verankert, aber noch nicht verwirklicht

Ein großer Durchbruch im Abkommen ist die explizite Verankerung des One-Health-Ansatzes, der die Gesundheit von Menschen, Tieren und der Umwelt und deren Zusammenhänge betrachtet. Auch wenn Deutschland sich hier eine stärkere und konkretere Ausgestaltung (Artikel 5) gewünscht hätte, nennt Valentina vom BMG die Aufnahme von One Health in einem internationalen Abkommen einen „großen Erfolg“.

Durch die Integration von One Health fördert das Abkommen sektorenübergreifende Zusammenarbeit und Frühwarnsysteme, um Ausbrüche direkt an der Quelle zu verhindern. „Ich hoffe wirklich, dass dies die Grundlage für weitere Diskussionen und Zusammenarbeit bildet“, sagt Valentina. Langfristig könnten daraus gezielte Investitionen in veterinärmedizinische Überwachung, klima-bezogene Forschung und andere präventive Maßnahmen entstehen.

Deutschland setzt sich seit Langem auf internationaler Bühne für One Health ein, unter anderem durch die Partnerschaft mit Frankreich im Rahmen des deutsch-französischen One-Health-Ansatzes. Das Abkommen greift mehrere diplomatische Prioritäten Deutschlands und der EU auf, darunter Frühwarnsysteme, Überwachung und Kapazitätsaufbau.

Die Gerechtigkeitsfrage: Freiwillig oder verbindlich?

Das Abkommen sieht vor, dass pharmazeutische Hersteller 20 % ihrer Pandemie-Produktion in Echtzeit der WHO zur Verfügung stellen – zur Verteilung an bedürftige Länder, wovon mindestens die Hälfte gespendet werden soll. Trotz vielversprechender Sprache zur Gesundheitsgerechtigkeit besteht auch Kritik, insbesondere zu Impfstoffverteilung und Technologietransfer (Artikel 11). Viele Maßnahmen zur Förderung der Gerechtigkeit bleiben freiwillig. Manche sprechen von einer „leeren Hülle“, andere von einer „Grundlage zum Weiterbauen“.

Für MSF und viele weitere zivilgesellschaftliche Organisationen ist das ein Alarmzeichen. Die Formulierungen zur Technologieübertragung – etwa zur Weitergabe von Know-how oder geistigem Eigentum (IP) – seien zu schwach. „Wir verlassen uns auf den guten Willen von Pharmaunternehmen, um einen gerechten Zugang sicherzustellen … und COVID hat gezeigt, dass das nicht ausreicht“, sagt Melissa. „Was wir jetzt haben, überlässt die Welt im Wesentlichen den Entscheidungen privater Rechteinhaber. Und das ist definitiv ein Risiko.“

Warum fehlen verbindliche Vorgaben? Unter anderem wegen Widerstand aus Ländern mit hohem Einkommen und starker Pharmaindustrie.

Valentina betont Deutschlands Haltung zur Innovationsförderung und zum Schutz geistigen Eigentums: „Es ist wichtig, eine starke pharmazeutische Industrie zu haben, die uns bei der nächsten Pandemie helfen kann […]. Wir müssen ihnen den Raum geben, innovativ zu sein […] - der Kompromiss, den wir gefunden haben, bietet die richtige Balance.“ Die EU-Position war, dass Forschung und Entwicklung (R&D) – inklusive IP-Schutz – erhalten bleiben müssen, um Innovation zu fördern.

Doch nicht alle teilen diese Sichtweise. Melissa von MSF betont, dass IP nicht der Haupttreiber von Innovation sei – insbesondere nicht im Bereich der globalen Gesundheit. „Wir dürfen nicht vergessen, wie viel öffentliches Geld in Forschung und Entwicklung fließt“, sagt sie. „Die Vorstellung, dass IP allein der Motor für Innovation ist, entspricht nach unserer Erfahrung nicht der Realität. Einerseits sehen wir immer wieder, wie IP-Monopole den Zugang zu medizinischen Innovationen für die Menschen, um die sich MSF kümmert, erschweren. Andererseits gibt es eine Forschungslücke bei Krankheiten, die keine hohen Gewinne versprechen, aber Millionen Menschen betreffen.“ Ihrer Meinung nach schwächt mangelndes Teilen von IP und Technologie die Effizienz öffentlicher Investitionen.

Für MSF zeigt der fehlende Verbindlichkeitsgrad ein klares doppeltes Spiel. Länder wie Deutschland unterstützen die globale Gesundheit etwa durch Forschungsinvestitionen, hielten in den Vertragsverhandlungen jedoch an klaren roten Linien fest, die progressivere Regelungen abschwächten. Der Konflikt zwischen öffentlichen Gesundheitsinteressen und wirtschaftlichen Interessen bleibt ungelöst.

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